Begegnungen: Am Risserkogel

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Natur, Ruhe, Ausblick, Anstrengung – es gibt viele Gründe, die mich in die Berge ziehen. Aber ich habe in den letzten Jahren während meiner vielen Wanderungen noch einen guten Grund gefunden, der mich immer wieder in die Höhe treibt: Begegnungen. Vielleicht, weil es dort viele Gleichgesinnte gibt, vielleicht, weil man anders miteinander redet oder vielleicht deshalb, weil man einfach Zeit für gute Gespräche hat. Immer wieder treffe ich auf Menschen, die mich beeindrucken und die eine spannende Geschichte zu erzählen haben.
Es ist Mai. Der Schnee in den Bergen ist immer noch nicht ganz abgetaut. Der Schnee in mir bedeckt noch weiträumig meine Seele. Ich muss raus, Sonnenstrahlen tanken, den Schnee tauen lassen. Das beste Mittel für mich sind die Berge. Ich gehe alleine, eine Tour, die ich schon kenne. Wie immer will ich am Anfang meine Ruhe haben, einfach gehen, schwitzen, alles abfallen lassen. Es sind zum Glück auch nicht viele Wanderer unterwegs, am ersten Gipfel tummelt sich eine kleine Gruppe, man grüßt sich nett, ist aber nicht auf Gespräche aus. Das passt mir gerade ganz gut. An mir vorbei stapft ein älterer Mann, er ist schnell unterwegs, und er ist auch alleine. Ich lächele, denke mir, auch einer, der sein Ding macht. Er geht weiter Richtung Risserkogel. Das hatte ich auch vor, war mir aber bis gerade nicht sicher, ob ichs wirklich machen soll. Aber irgendwie packt mich der Ehrgeiz, es ist einer meiner Lieblingsberge, ich bin früh dran, die Stimmung passt, ich hab noch ein paar Dinge zu verarbeiten – der innere Frühling ist noch nicht angekommen – also los. Ich folge dem Mann nach einer Weile.
Eine halbe Stunde später habe ich ihn eingeholt, gehe langsam hinter ihm her.
Ich will nicht drängeln, Wanderer, die es eilig haben, bringen Unruhe in so einen ruhigen Tag. Er fragt, ob ich vorbei möchte, irgendwie habe ich keine Lust, sage nein, wenn es ihm nichts ausmache, würde ich hinterher gehen. Denn ich finde sein Tempo in dem Moment genau richtig. Und dann kommen wir doch ins Gespräch. Wir geben uns beide einen Ruck, wollen das Alleinsein hinter uns lassen. Ich hätte ein gutes Tempo sagt er. Seines sei auch nicht schlecht, gebe ich zurück und denke ohne bösen Hintergedanken ‘vor allem für sein Alter’. Und so fängt er an, ein bisschen zu erzählen. Von seinen Wanderungen, wie lange er schon in die Berge geht, wie sich das Bergwandern verändert hat, wie sich die Leute auf den Hütten verändert haben. Dass er seit den 70ern in Bayern wohnt, in Gmund. Eigentlich kommt er aus Ostdeutschland, seinen Dialekt hat er immer noch nicht ganz abgelegt.
Aber seine Heimat sei hier, sagt er. Vor allem die Berge.
Er erzählt von seiner Arbeit, dass er immer noch aushilft, obwohl er schon in Rente ist. Weil er nicht ganz ohne Arbeit kann. Und weil er noch fit ist, die Leute nach seiner Expertise fragen. Und dann erzählt er von seinem Sturz, den er erst vor einem Jahr hatte. Einer seiner längsten und treuesten Bergfreunde geht nun deshalb nicht mehr mit in die Berge. Weil er gesehen hat, wie schnell man abstürzen kann. Weil sie nicht mehr die Jüngsten seien. Doch mein spontaner Wanderbegleiter bleibt dem Wandern treu. Er könne einfach nicht ohne. Obwohl er Glück im Unglück hatte, er ist einige Meter den Abhang herunter gerollt, seine Wasserflasche dagegen flog in den Abgrund. Mit einer schwereren Verletzung ist er noch weiter bis zur nächsten Hütte. Er sei jetzt um eine Erfahrung reicher. Aber das sind Unfälle, die passieren. Er ist trittsicher und geht keine Risiken ein. Er weiß, was er hier macht. Am Gipfel angekommen, machen wir Pause, genießen den Ausblick. Er gibt mir von seinen Karotten- und Apfelstückchen ab. – Seither verpacke ich mein Obst und Gemüse genauso wie er! – Ich mache ein paar Fotos. Oft sei er hier.
Der Berg habe es ihm angetan. “Mir auch!”, sage ich.
Wir verstehen, warum wir hier sind. Auf dem Rückweg erzähle ich, was mich herverschlägt, warum ich alleine bin, was die letzten Wochen passiert ist. Er muntert mich auf, diese Weisheit, die man mit den Jahren bekommt, die hilft mir, es anzunehmen. Ich lächle, der Schnee taut langsam. Am Seekarkreuz erzählt er mir die Geschichte von dem Mädchen, an das dort gedacht wird. Er kennt die Eltern und erzählt von dem Absturz damals. Ein Skiunfall. Manchmal kümmert er sich um die Blumen. Ich bin berührt. Merke, wie schnell sich das Leben ändern kann. Beim Abstieg erzählt er mir von seiner Krankheit, ein Tumor. Mittlerweile ist er weg. Sein Lebensmut hat ihm geholfen, und das Glück, dass er die richtigen Ärzte gefunden hat. Er erzählt von seiner Frau, wie er sie kennengelernt hat, wie er sie liebt und von seinen Urenkeln. Er ist stolz. Und ich bin beeindruckt, wie viel er schon erlebt hat. Unten angekommen, essen wir noch ein Eis, plaudern über den Nachmittag, die schöne Tour. Wir lachen viel. Vielleicht machen wir nochmal eine Tour gemeinsam. Auf den Guffert. Er würde sich freuen. Ich mich auch. Dann gehen wir unsere Wege – er zu seinen Urenkeln, ich nach Hause in meinen Alltag. Ich bin dankbar für die Geschichten, für ein spannendes Leben, das ich an einem halben Tag einfach mal so kennengelernt habe. Meinen Schnee hat der Mann zum Tauen gebracht. Ich habe meine Ruhe gefunden, bin glücklich. Nicht weil ich meine Ruhe am Berg hatte, ganz im Gegenteil, weil ich endlich mal wieder befreit reden konnte.

Von Stefanie Singer

Bergwandern hab ich in der Schule für mich entdeckt: Mit dem Schullandheim in Berchtesgaden und dann bei der Abifahrt auf dem Sentiero della Pace (Friedensweg). Von Konstanz aus war ich in den Schweizer Bergen unterwegs und ein Freund hat meine Liebe zu den östlichen Gebirgen geweckt: Hohe und Niedrige Tatra, Beskiden etc. Ansonsten fahr ich zum Wandern gern nach Norwegen, Irland und Schottland. An den Wochenenden genieß ich, was die Alpen in Deutschland, Österreich und Südtirol zu bieten haben.